Sprachraum

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24. Dezember 2020
Das Zeughaus – Ei
Der Christbaum auf dem Zeughausareal leuchtet am Heiligabend tapfer in längsgestreiften Lichterketten. Die Glühbirnen bohren kegelförmige Löcher in den dichten Nebel. Kein Christkind, keine heilige Maria, kein José weit und breit, Ochs und Esel märchenweit. Vielleicht sollte seine schlichte Aufmachung den coviderschöpften Menschen, klare Lichtstrukturen vermitteln, damit sich ihre ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte in fiktive Kinolandschaften verwandeln können. Niemand ist da. Menschen im Lockdown sitzen in Abständen zu ihren Liebsten in ihren Stuben und essen kein Fondue Chinoise, schauen mit Masken Serien in Serie. Ein Jahresende ohne Blingbling, Apres – Ski und Lametta.
Die Zeughaus-Elstern krächzen und singen in Chören: “ Stille Nacht, heilige Nacht.“
Das Kreiselnashorn irrt ungelenk Richtung Zeughausareal, will inkludieren, dort mit seinen neuen Freundesfreunden den Heiligen Abend ausprobieren. Für diesen aussergewöhnlichen Anlass hat es sein Horn vergolden lassen. Es wurde unlängst zum inoffiziellen Wahrzeichen der Stadt Uster erkoren. Alle wollen es jetzt ergründen, ihm Geschichten andichten. Was denkt das Nashorn? Wie fühlt es oder gar, in wen ist es verliebt? Mit solchen geheimnisvollen Fragen vertreiben die Menschen ihre Langeweile in ihren Lockdown – Stuben. Das Nashorn hat sich ein cooles Begrüssungsritual ausgedacht. Es dreht sich im Kreis, dreht und dreht sich immer schneller, bis es flink in einer flotten Pirouette endet.
„Was für ein Auftritt!“, loben Mme Frigo und der Altherr-Turm. Sie haben das Nashorn im Zeughaus unter dem Christbaum mit grosser Vorfreude erwartet. Der Altherr-Turm liegt waagrecht neben dem Weihnachtsbaum. Kecke Eichhörnchen knacken Nüsse in seinem Bauch, wecken Schmetterlingsgefühle. Er wünscht sich Liebe und Stabilität, möchte sich verwandeln in einen Leuchtturm mit fester Bleibe. „Helft mir“, sagt der Altherr zu Mme Frigo und dem Nashorn. „Ich will kein Schwergewicht als Spitzentänzer mehr sein und das Neben- und Miteinander von Schwere und Leichtigkeit ausbalancieren. Ich will keinen Auftrag mehr erfüllen, keinen Status mehr aufrechterhalten. Ich bin auch kein Steh-auf-Mann.“
„Ganz ruhig. Alles ist gut!“ Mme Frigo besänftigt den armen Herrn im Rohr, schichtet liegengebliebene Hölzer und Latten von der ehemaligen Zirkusanlage Filacro fachgerecht zu einem stattlichen Weihnachtsfeuer neben dem Weihnachtsbaum. Soviel zarte Empathie liegt in den Zwischenräumen. Covid bleibt strikte, hält an den Abständen fest. Mme Frigo spürt viel Wärme in Wellen.
Am Sternenhimmel kreist ein prominentes Storchenpaar über dem Wipfel des Weihnachtsbaumes und landet just neben dem gemütlichen Lagerfeuer. Das Paar konnte dieses Jahr covidtechnisch nicht in seine Winterdestination ausreisen. Daher suchen die beiden verzweifelt eine lokale Unterkunft ad interim bis zum kommenden Frühling. Das Feuer züngelt und spritzt Funken. Die Störche klappern fröhlich, machen Begrüssungstänze auf ihren Stelzen und freuen sich riesig auf das bevorstehende Weihnachtsfest. Sie legen ein Tupperware verziert mit einer hübschen roten Schlaufe unter den Weihnachtsbaum. Alle haben etwas Schönes mitgebracht, wollen sich gegenseitig beschenken.
Ein unheimlicher Schatten schleicht über das Zeughausgelände. Es ist das Referendum, das herumirrt. Es will Stimmen gewinnen, den geplanten Verlauf entschleunigen und etwas Unruhe ins Bauvorhaben streuen. Ausserdem sind bald wieder Neuwahlen angesagt.
Die Zeughaus Elstern singen und krächzen: „Lueget nöd ume, s’Referendum gaht ume.“
Jetzt werden am weihnachtlichen Feuer Geschenke ausgetauscht. Das Nashorn hält eine feierliche Rede: „Liebe Mme Frigo, du bist das Herzstück des Areals, die Nährstelle, Zentrale des Guten, ein höchst frequentierter Dreh- und Angelpunkt für alle. Du bist die heilige Maria und trägst das ewige Christkind im Bauch.“ Alle rufen bravo und klatschen. „Im Namen der Stadt will ich dir mein goldenes Horn überreichen. Sie hat dir, in diesem aussergewöhnlichen Jahr 2020, wohlverdient den Inklusionspreis verliehen.“ Mme Frigo ist gerührt. Soviel Liebe und Wertschätzung hat sie nicht erwartet. Sie wurde gestern nullkommaplötzlich von einer wilden Bande leergeräumt. Das war neu, hinterliess kleine Risse in ihrem grossen Herz. Sie gönnt sich ein paar Wellnesstage, befindet sich im wohlverdienten Taumodus und freut sich unermesslich über das goldene Horn. Sie kontert fröhlich mit einer ebenso wohlwollenden Rede:
„Liebes Nashorn, du bist unser Shootingstar, hast das Potential zum neuen Wappentier. Niemand weiss genau, woher du kommst. Das macht dich geheimnisvoll und unwiderstehlich. Heute bist du ausgebüxt aus deinem starren Kreisel – endlich. Wir bewundern deinen Mut!“ Alle klatschen und johlen. „Ich schenke dir im Gegenzug ein GA. Damit sollst du dich in Zukunft frei bewegen, die Stadt ergründen und Grenzen ausloten. Wir schenken dir Freiheit. Auch für dich habe ich was Kleines, mein lieber Altherr.“ Sie überreicht ihm eine Schatulle mit blauen Pillen. „Du wirst unser neuer Leuchtturm sein. Wir unterstützen dich gemeinsam!“Standing Ovations. Alle klatschen und wollen nicht mehr aufhören.
„Störe ich? Nichts für ungut. Ich bin das Referendum, sammle Unterschriften für einen Plan B in Sachen Zeughaus.“Das Nashorn, die Störche und der Altherr schauen grimmig. Mme Frigo bietet dem schlotternden Gast einen Platz am Feuer und denkt erstmal nach.
„Unterschreiben will und kann ich nicht. Hör zu. Ich mache dir einen guten Vorschlag, den man nicht verwerfen kann. Wir organisieren für dich und deine Freunde einen Buurezmorge unter dem Motto all inclusive. Kreti und Pleti werden wir einladen. Weiter planen wir gemeinsam einen OL auf dem Zeughausgelände. Die Gruppen werden zufällig und bunt gemischt. Man muss also gemeinsam co – existieren und dito kooperieren.“ Das Referendum spürt viel Wärme und fühlt sich seltsam aufgehoben. Es nimmt den Vorschlag gegen seine ursprüngliche Absicht an.
Der Altherr will definitiv nicht mehr couchpotaten. Alle helfen ihm gemeinsam auf die Beine. Bei so viel edler Feierlichkeit, will auch er ein Sprachrohr sein:
„Liebe Alle, ihr helft mir wieder auf die Beine. Wie kann ich es euch nur danken. Da ich mein Geschenk im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen habe, ist mir bei soviel Liebe und Freundschaft doch noch etwas Nettes eingefallen. Liebes Storchenpaar, gerne biete ich euch einen sicheren Unterschlupf in meinem Bauch, bis euch der Frühling wieder ruft und unter den freien Himmel lockt. Ich weiss genau, wie es sich anfühlt, wenn man kein Zuhause mehr hat.“
Das Paar weint Storchentränen. Alle möchten sich jetzt in den Armen liegen, sich herzen und küssen.
Nun heben die Störche an: „Liebe Freunde, wir wollten, wir würden, wir möchten euch gerne etwas fragen?“ „Wir sind ganz Ohr“, sagt das heitere Grüppli am Feuer unisono. „Wir suchen vorsorglich Patentanten und Onkel für unser gelegtes Ei, damit wir vielleicht mal über ein Wochenende ins Tessin fliegen könnten.“
Frau Storch öffnet behutsam das Tupperware und klappt zusammen. „Das Ei ist weg“, stammelt der Storchenvater entsetzt. „Ich war’s“, flüstert das Referendum. „Ich fühlte mich schrecklich ausgeschlossen und einsam. Niemand hat mich zum Weihnachtsfest eingeladen.“ Tränen kullern auf die Sammelliste und lösen die Referendums – Unterschriften auf. „Ich habe das Ei gestohlen und im Zeughausbunker versteckt.“ Jetzt geht’s ruckzuck:
Das Referendum und das Nashorn holen das Ei gemeinsam aus dem stinkigen Verlies und bringen es unversehrt zurück in die etwas konsternierte Runde. Frau Storch hat sich wieder gefasst. Restschluchzer durchzucken sie in Abständen. Hauptsache das Ei ist wieder zurück.
Das Feuer glutet, singt in Orange – Tönen und verströmt viel inkludierende Wärme. Sehr lange sagt niemand was. Plötzlich erhebt sich Mme Frigo, die frisch gekürte Ustemer Inklusionspreisträgerin des Jahres 2020 und spricht in die Nacht hinein:
„Lasst uns das Ei gemeinsam ausbrüten, so dass Grosses entstehen kann.“
Die Zeughaus- Elstern singen und krächzen in Chören:
„Eieiei, hier entsteht Grosses!“

 

18. Mai 2018
Im Park
Kommt eine rasend schöne junge Mutter mit ihrem blondgelockten Mädchen dahergelaufen. Es ist Sommer weit und heiss. Ahornbäume spenden Schatten. Die Mutter trägt einen eleganten Strohhut. Sie skypt vielleicht mit ihrem Liebhaber, zupft am schulterfreien Shorteinteiler. Das Smartphone sendet liebesfrohe Nachrichten ins angekabelte Ohr. Die Liebesbotschaften schlagen Wellen. Längsstreifen schwarz auf beige mäandrieren über den festen Leinenstoff. Die Schöne tanzt jetzt sozusagen aus ihrem Kleid heraus. Das hüftlange Haar unter der Kopfbedeckung aus Stroh fliesst in zwei haselnussbraunen Wasserfällen lose über ihre nackten Schultern. Die Mutter und das Kind steuern auf den Parkbrunnen zu. Das Kind hält inne, ziert und windet sich vor dem Brunnen, weiss nichts damit anzufangen. Die Mutter kümmert’s nicht. Das Kind soll doch machen was es will. So stehen sie da in der Hitze und nichts passiert. Ein verträumter, leicht zerzauster Mann kommt dahergelaufen, sieht das Kind und will ihm helfen, etwas mit dem Wasser im Brunnen anzufangen. Die Mutter lässt ihr Smartphone blitzschnell in ihre Louis Vuitton Tasche verschwinden, faucht aus den Augen und verscheucht den Mann wie ein räudiger Hund. Er zieht eine Schleife und schlendert lächelnd weiter. Die Mutter netzt ihre Fingerspitzen gelangweilt im kühlen Brunnen. Das Kind ahmt sie nach. Das war’s dann auch schon. Sie spricht jetzt wieder mit dem Smartphone. Das Kind windet und ziert sich am Brunnenrand und weiss nicht, was es mit dem Nass im Wasser anfangen soll. Vielleicht wäre es besser, es würde auch ein Smartphone besitzen mit einer App, die dann Wasser und Brunnenspiele ausspuckt. „Spring in den Brunnen, schlage Wellen, spritze, plantsche, hüpfe, schreie und sei froh!“